Der Irrtum, man brauche einen Arbeitsvertrag, um einzuwandern
Um die Ängste vor schädlicher Zuwanderung zu zerstreuen, wird geltend gemacht, jeder Zuwanderer brauche einen Arbeitsvertrag. Das stimmt nicht. Diverse weitere Kategorien können einwandern:
1) Vor allem jeder selbständig Erwerbende
Vor allem kann jedermann als selbständig Erwerbender einwandern. Jeder „Selbständige“ erhält eine Aufenthaltserlaubnis, „sofern er den Behörden nachweist, dass er sich zu diesem Zweck niederlassen will“ (Anhang I zum Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU vom 21. Juni 1999, Art. 12 (1)).
Praktisch jede Tätigkeit kann nicht nur als Angestellter, sondern auch als selbständig Erwerbender ausgeübt werden; vom Arbeiter auf dem Bau (z.B. selbständig erwerbender Dachdecker) bis hin zur „selbständigen Schreibkraft“ (z.B. Sekretärin, die selbständig erwerbend für verschiedene Büros arbeitet). Jedermann kann als „Ein-Mann-Firma“ tätig werden (in Deutschland hat sich der Name „Ich-AG“ eingebürgert).
Jeder Arzt, jeder Zahnarzt, jeder Jurist kann in die Schweiz ziehen und sein eigenes Büro eröffnen. Dies gilt auch für problematischere Berufe: Vom religiösen Prediger bis zur Dirne kann jeder als selbständig Erwerbender einwandern und hier bleiben.
Binsenwahrheit Nr. 6:
Der Einwand, jeder Einwanderer brauche einen Arbeitsvertrag, ist schon deshalb nicht haltbar, weil jeder als selbständig Erwerbender kommen kann.
2) Alle, die genug Geld haben
Eine Person „erhält eine Aufenthaltserlaubnis, sofern sie über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthaltes keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen muss und über einen Krankenversicherungsschutz verfügt“ (Anhang I, Art. 24). In Absatz (2) wird präzisiert, dass „die finanziellen Mittel als ausreichend gelten, wenn sie den Betrag übersteigen, unterhalb dessen die eigenen Staatsangehörigen auf Grund ihrer persönlichen Situation (…) Anspruch auf Fürsorgeleistungen haben“, oder „wenn sie die von der Sozialversicherung des Aufnahmestaates gezahlte Mindestrente übersteigen“. Das heisst im Grundsatz, dass jeder kommen kann, der das Existenzminimum seiner Familie decken kann.
Möglich ist insbesondere, dass der neu geschaffene „gemischte Ausschuss“ (das aus EU-Vertretern und einer Schweizer Delegation zusammengestellte Gremium) oder faktisch EU-Gerichte entscheiden werden, wie viel (resp. wie wenig) finanzielle Mittel jemand besitzen muss, um ein Einwanderungsrecht zu erhalten, selbst wenn er keinen Arbeitsvertrag aufweisen kann. Absehbar ist, dass - wer via diesen Weg einmal in der Schweiz ist - nicht mehr ausgewiesen werden kann, auch wenn er später der Allgemeinheit zur Last fallen wird. Auch Spezialisten werden heute kaum beantworten können, wie sich die diesbezügliche Rechtssprechung entwickeln wird.
3) Teilpensum genügt
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass auch ein Arbeitsvertrag für ein Teilpensum (z.B. 50% oder weniger) genügt, um einen Rechtsanspruch zu erlangen, in die Schweiz zu ziehen. Bedingung ist nur, dass der Einreisende nicht sofort der Sozialbehörde zur Last fällt. Auch dies läuft auf die Regelung hinaus, dass jedermann einwandern kann, der vorläufig sein Existenzminimum abdecken kann. Genügend Mittel, die langfristig den Gang zum Sozialamt verhindern, braucht es nicht.
4) Studenten
Auch jeder Student erhält inklusive Ehegatte und Kinder ein Aufenthaltsrecht (Anhang I, Art.3 (2), c).
5) Familienmitglieder ohne Arbeitsvertrag
Nicht nur eine Person mit dem Arbeitsvertrag in der Tasche hat ein Recht auf Einwanderung, sondern auch dessen Familie in erstaunlich weit reichendem Sinne (Anhang I, Art.3 (2), a und b). Als Familienangehörige gelten:
Ehegatten, Kinder und Enkel unter 21 Jahren sowie über 21 Jahren, denen die Person Unterhalt gewährt.
Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern der Person oder ihres Ehegatten, denen sie Unterhalt gewährt.
6) Sechs Monate Recht auf Arbeitssuche
Jeder EU-Bürger erhält das Recht, innerhalb der Schweiz mindestens sechs Monate lang eine Arbeit zu suchen. Sobald er Aussicht auf Arbeit mit einem Arbeitsvertrag von über einem Jahr nachweisen kann, darf er mindestens 5 Jahre bleiben (Anhang I, Art. 6). Selbst wenn er die Stelle z.B. wegen Krankheit gar nicht antritt, behält er die Möglichkeit, sich in der Schweiz aufzuhalten (Anhang 1, Art. 6.(6)).
7) Weniger als drei Monate immer erlaubt
Wer weniger als drei Monate pro Jahr in der Schweiz arbeitet/arbeiten will, braucht ohnehin keine Aufenthaltserlaubnis mehr (Anhang I, Art. 6 (2)).
Dies alles heisst, dass mit der Ausweitung des freien Personenverkehrs die Bürger von neuen EU-Staaten faktisch ein freies Recht auf Einwanderung in die Schweiz erhalten werden. Wirksame Bremsen sind nicht in Sicht.