Der Irrtum, die Praxis zeige, dass es keine Zuwanderung gibt
Um den Stimmbürger zu beruhigen, wird argumentiert, die Praxis zeige, dass keine Wanderbewegungen resultieren. Das ist Unsinn. Bei Wohlstandsunterschieden hat es - wenn freie Zuwanderung zugelassen wurde - immer Wanderungen gegeben und wird es künftig immer geben. Willkürlich werden Prognosen in die Welt gesetzt, wie viele Einwanderer im Fall der Einführung der Personenfreizügigkeit angeblich in die Schweiz kommen werden. Diese Prognosen sind unseriös; auch sie missachten ein ökonomisches Grundgesetz, das eine der banalsten Binsenwahrheiten darstellt:
Binsenwahrheit Nr. 7:
Je attraktiver ein Land ist, um so mehr Menschen wollen natürlich dorthin ziehen.
Selbstverständlich kommen Einwanderer, wenn und so lange die Schweiz attraktiv ist. Und selbstverständlich kommen sie nicht mehr, wenn die Schweiz heruntergewirtschaftet ist. Wer behauptet, es werde keine nennenswerte Einwanderung geben, hat sich bereits damit abgefunden, dass die Schweiz im Durchschnitt versinkt. Oder er strebt das Herunterwirtschaften unseres Landes sogar gezielt an.
Längst historisch bewiesen.
Die Praxis zeigt, dass es bei Wohlstandsunterschieden immer Zuwanderung gibt und gab. Sogar Marx und Engels legten dies vor bald 200 Jahren dar: „Die britischen Arbeiter brauchten für ihr Daseins-Minimum mehr Geld als die eingewanderten Iren, die zu Hause Kartoffeln essen und im Schweinestall schlafen. Folge: Die Iren drücken die Löhne und den Zivilisationsgrad der englischen Arbeiter herab, so dass diese auch im Kellerloch landen.“ Der im 19. Jh. massgebende Ökonom Max Weber schrieb über die Wanderung aus den Ostländern nach Deutschland, wo die Nachfrage nach Arbeitskräften stieg: „Der Bedarf an billigen Arbeitskräften stieg zwar (in Deutschland), jedoch lockten die Grundherren Tausende von Polen und Russen ins Land, die das Lohnniveau der einheimischen Knechte und Mägde ruinierten“.
Auch in der EU gibt es Wanderungen
Entgegen den Behauptungen gibt es auch innerhalb der EU Wanderung, sobald Wohlstandsunterschiede bestehen. Das zeigt sich schon an der sehr grossen Zahl von Auswanderung ehemaliger DDR-Bürger in den Westen. Zu beachten ist, dass in der EU bisher aufgrund von Übergangsfristen die Personenfreizügigkeit noch gar nicht voll eingeführt ist. Generell sind die bisherigen Zeiträume für eine Beurteilung der Auswirkungen der Personenfreizügigkeit noch viel zu kurz.
Schon ohne Personenfreizügigkeit enorme Zuwanderung
Ein Grossteil unserer Bevölkerung hat keine Ahnung, wie enorm die Zuwanderung in den letzten Jahren war. Sie beweist, wie die Schweiz schon ohne freien Personenverkehr eine gewaltige Anziehungskraft hat, viel grösser alle anderen EU-Länder.
- In den 90er-Jahren wurden mehr als eine Million neue Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen erteilt (genau waren es 1'001'320; davon in Abzug zu bringen sind die Auswanderungen). Das ist verglichen zur Wohnbevölkerung Weltrekord.
- Schon im Vorwort wurde betont, dass seit Beginn der 90er-Jahre unsere Wohnbevölkerung um 700'000 (mehr als die Einwohner der Städte Zürich, Basel und Genf) gewachsen ist, obwohl die Schweizer Bevölkerung aufgrund der tiefen Geburtenrate praktisch stagniert. Jahr für Jahr kommen durch die Einwanderung über 50'000 Personen dazu, d.h. rund die Bevölkerung der Stadt Luzern.
Seit 1.6.2004 nochmals starke Zunahme der Einwanderung
Oft wird argumentiert, die (neu eingeführte) Personenfreizügigkeit mit den 15 „alten“ EU-Staaten zeige, dass es keine nennenswerte Einwanderung gäbe. Die Wahrheit ist eine andere. Obwohl die Personenfreizügigkeit erst seit kurzem gilt (so richtig erst seit 1.6.2004 mit dem Wegfall der „Inländerbevorzugung“), und obwohl der Wohlstandsunterschied zu Ländern wie Deutschland viel kleiner ist als zu den 10 „neuen“ Staaten, liegen bereits besorgniserregende Negativmeldungen vor. Einige Beispiele:
- Sogar schon vor dem erwähnten 1. Juni 2004 hatte der Blick - in Anbetracht der sich abzeichnenden Entwicklung - am 25. Mai 2004 in grossen Lettern gemeldet: „Gipsermeister lehnen GAV ab: Jetzt schnappen ihnen Ausländer die Aufträge weg“.
- Am 12.9.04 schrieb die Sonntagszeitung „Deutsche schicken Arbeitslose in die Schweiz“: „Tausende von Arbeitnehmern aus der EU möchten auch in der Schweiz wohnen. (…) Für September/Oktober/November waren am 10.9.04 (also bereits nach 10 Tagen!) von 3'825 Plätzen bereits 2'600 weg“. Gemeldet wurde, dass Monat für Monat 2'000 Deutsche allein im Kanton Zürich zu arbeiten beginnen. Die Zeitung „20 Minuten“ schrieb am 13.9.04: „Arbeitslose Ossies für Schweiz rekrutiert; Deutsche Arbeitsämter veranstalten Anlässe, in denen sie für Jobs in der Schweiz werben“.
- Lichtenstein hat nach der Einführung der Personenfreizügigkeit sofort die Notbremse ziehen müssen, weil die Zahl der Ärzte sprunghaft anstieg. Bei uns ist dieses Problem nur noch nicht aktuell, weil ein vorübergehendes Verbot von Praxiseröffnungen für beschränkte Zeit einen Riegel bildet.
- Im Grenzkanton Tessin sind ab 1.6.2004 innert nur vier Monaten rund 3'500 Leute zum kurzfristigen Arbeiten eingereist, viele davon als „selbständig Erwerbende“, viele via Vermittlungsbüros. Für den Kanton Tessin entspricht dies einer enormen Zahl resp. einer eigentlichen Explosion der Einreisen.
Wahrheit wird sogar „von Amtes wegen“ vertuscht
Die Bundesverwaltung versucht sogar; die hohen Zuwanderungszahlen zu verfälschen, um die kommende Abstimmung zu beeinflussen! Mit Rundschreiben vom 5.9.03 forderte das zuständige Bundesamt die Kantone auf, statt Jahresbewilligungen Kurzaufenthaltsbewilligungen zu erteilen, damit die Statistik weniger alarmierend aussieht („die frühzeitige Ausnützung der Kontingente würde die Akzeptanz der EU-Erweiterung ernsthaft in Frage stellen“). Gleichzeitig wurde in diesem Brief offen zugegeben, „angesichts (..) des Arbeitsmarkts beunruhigt uns die Entwicklung“.
Enormer Wohlstandsunterschied zu den Oststaaten
Wieso sollte die Zuwanderung bei EU-Erweiterungen nicht noch viel grösser werden, wenn sich schon mit Deutschland Probleme ergeben? Die Wohlstandsunterschiede zur Schweiz sind wie erwähnt riesig. So beträgt z.B. in Estland das monatliche Durchschnittseinkommen 146 Euro, in Lettland 198 Euro oder in Litauen 203 Euro. Der Durchschnittsstundenlohn in den neuen EU-Staaten liegt bei 4 Euro die Stunde. Die dortige Arbeitslosigkeit ist gross, die Sozialleistungen äusserst gering. Allein in der Slowakei schätzt man 400’000 Fahrende, die fast alle von der Sozialhilfe leben und westwärts ziehen könnten.